Recht

10. August 2021

Dr. Andreas Möhlenkamp

Ände­rung der Recht­spre­chung im Insol­venz­an­fech­tungs­recht (Vorsatz­an­fech­tung, § 133 InsO)

Zur Darle­gung der Kennt­nis vom Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs­vor­satz des Schuld­ners – recht­zei­tige und aussichts­rei­che Sanie­rungs­be­mü­hun­gen schüt­zen zugleich Schuld­ner und Gläubiger

BGH, Urt. v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20

Wann dürfen Zahlun­gen entge­gen­ge­nom­men werden mit der Aussicht, diese auch in einer späte­ren Insol­venz des Schuld­ners behal­ten zu dürfen? Für den insol­venz­recht­lich nicht geschul­ten Juris­ten und erst recht für die betrof­fe­nen Kauf­leute ist das Insol­venz­an­fech­tungs­recht kaum zu durch­drin­gen. Es erfor­dert Kennt­nisse der feinen recht­li­chen Veräs­te­lun­gen und inten­sive Arbeit am Sachverhalt.

Insol­venz­ver­wal­ter werden sich in Zukunft schwe­rer tun, länger zurück­lie­gende Zahlun­gen anzu­fech­ten. Dafür sorgt ein jünge­res Urteil des BGH, mit dem der für das Insol­venz­recht zustän­dige IX. Senat seine Recht­spre­chung ändert. Die bislang sehr weit­rei­chende Recht­spre­chung des BGH zur Vorsatz­an­fech­tung wird zurück­ge­nom­men. Geschützt werden Gläu­bi­ger, die nicht erken­nen konn­ten, dass sich der Schuld­ner in einer fort­dau­ern­den Krise befand. Zugleich setzt der BGH Anreize für eine recht­zei­tige Sanierungsplanung.

Grund­sätz­lich muss der Insol­venz­ver­wal­ter, der Zahlun­gen zur Masse zurück­for­dern will, die „Kennt­nis“ des Anfech­tungs­geg­ners von einer Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gung nach­wei­sen. Für die Vorsatz­an­fech­tung, die bis zu 10 Jahre zurück­rei­chen kann, muss der Insol­venz­ver­wal­ter auch den Gläubigerbenachteiligungs-„Vorsatz“ des Schuld­ners nach­wei­sen. „Kennt­nis“ und „Vorsatz“ sind subjek­tive Tatbe­stands­vor­aus­set­zun­gen, also Umstände, die sich ausschließ­lich in den Köpfen der Gläu­bi­ger bzw. der Schuld­ner abspie­len. Da niemand in den Kopf eines ande­ren hinein­se­hen kann, muss der Insol­venz­ver­wal­ter im konkre­ten Fall die Kennt­nis des Anfech­tungs­geg­ners von objek­ti­ven Umstän­den darle­gen und bewei­sen, die typi­scher­weise auf eine Kennt­nis von der Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gung und vom dies­be­züg­li­chen Vorsatz des Schuld­ners hindeu­ten (sog. „Hilfs­tat­sa­chen“).

Die Kennt­nis von der Zahlungs­un­fä­hig­keit, die grund­sätz­lich einen Einblick in die Liqui­di­täts­bi­lanz erfor­dert und die darum fast nie nach­ge­wie­sen werden kann, ist bei Kennt­nis von einer Zahlungs­ein­stel­lung regel­mä­ßig anzu­neh­men, § 17 Abs. 2 InsO. Die Kennt­nis der Zahlungs­ein­stel­lung ist leich­ter nach­zu­wei­sen als die Kennt­nis der Zahlungs­un­fä­hig­keit. Denn Zahlun­gen sind nach der Recht­spre­chung des BGH nicht erst dann einge­stellt, wenn gar keine Zahlun­gen mehr geleis­tet werden, sondern bereits dann, wenn der Schuld­ner wesent­li­che Verbind­lich­kei­ten nicht mehr frist­ge­recht zahlt. Es kommt auf den „nach außen hervor­tre­ten­den, objek­ti­ven Eindruck“ an. Auch die Erklä­rung eines Schuld­ners, nicht mehr zahlen zu können, etwa im Zusam­men­hang mit einer Stun­dungs­bitte, kann auf eine Zahlungs­ein­stel­lung hindeu­ten. Das alles ist bekannt.

Neu ist, dass der Insol­venz­ver­wal­ter für den Voll­be­weis der Kennt­nis des Anfech­tungs­geg­ners vom Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs­vor­satz des Schuld­ners nicht mehr allein mit dem Vortrag durch­dringt, der Anfech­tungs­geg­ner habe die Zahlungs­ein­stel­lung und damit auch die Zahlungs­un­fä­hig­keit gekannt und schon deswe­gen habe er auch Kennt­nis vom Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs-vorsatz des Schuld­ners gehabt. Es könne Fälle geben, so der BGH, in denen der Schuld­ner „aus der maßgeb­li­chen Sicht ex ante trotz einge­tre­te­ner Zahlungs­un­fä­hig­keit berech­tig­ter­weise davon ausge­hen durfte, noch alle seine Gläu­bi­ger befrie­di­gen zu können“. Es reicht nicht aus, so der BGH weiter, „dass der Schuld­ner weiß, dass er im Zeit­punkt der Vornahme der später ange­foch­te­nen Rechts­hand­lung nicht alle seine Gläu­bi­ger befrie­di­gen kann. Entschei­dend ist, dass er weiß oder jeden­falls billi­gend in Kauf nimmt, dass er auch künf­tig nicht dazu in der Lage sein wird.“

Der BGH begrün­det diese „neue Ausrich­tung“ seiner Recht­spre­chung mit syste­ma­ti­schen Brüchen der bishe­ri­gen Recht­spre­chung, die der Gesetz­ge­ber nicht gewollt habe. Die weiter­ge­hende Recht­spre­chung sei darum zurück­zu­neh­men. Sie habe dazu geführt, dass die auf 3 Monate vor Insol­venz beschränkte Anfech­tung auch für kongru­ente Deckungs­ge­schäfte, § 130 InsO, untun­lich auf bis zu 4 Jahre ausge­dehnt werde. Die längere Anfech­tungs­frist von 4 Jahren müsse weitere Voraus­set­zun­gen haben als die Anfech­tung kongru­en­ter Rechts­hand­lun­gen im 3‑Monatszeitraum. Im Rahmen der Vorsatz­an­fech­tung spre­che darum „die gegen­wär­tige Zahlungs­un­fä­hig­keit allein <…> für den Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs­vor­satz im hier verwen­de­ten Sinne, wenn sie ein Ausmaß ange­nom­men hat, das eine voll­stän­dige Befrie­di­gung der übri­gen Gläu­bi­ger auch in Zukunft nicht erwar­ten lässt, etwa deshalb, weil ein Insol­venz­ver­fah­ren unaus­weich­lich erscheint.“ Ob und unter welchen Voraus­set­zun­gen das der Fall sei, habe der Tatrich­ter zu würdigen.

Aber auch die bishe­rige Anwen­dung des Vorsatz­an­fech­tungs­rechts auf Fälle nur drohen­der Zahlungs­un­fä­hig­keit gehe zu weit: „Müssen Gläu­bi­ger des nur drohend zahlungs­un­fä­hi­gen Schuld­ners die Vorsatz­an­fech­tung fürch­ten, können sie geneigt sein, von Geschäfts­be­zie­hun­gen mit ihm abzu­se­hen oder bestehende Bezie­hun­gen zu been­den. Auch dies kann die ansons­ten vermeid­bare Zahlungs­un­fä­hig­keit über­haupt erst herbei­füh­ren und auf diesem Wege letzt­lich in der Insol­venz münden.“ Maßgeb­lich sei darum in Zukunft, „ob der Schuld­ner wusste oder jeden­falls billi­gend in Kauf nahm, seine übri­gen Gläu­bi­ger auch zu einem späte­ren Zeit­punkt nicht voll­stän­dig befrie­di­gen zu können. Entspre­chen­des gilt für die Kennt­nis des Anfech­tungs­geg­ners vom Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs­vor­satz des Schuld­ners.“ Auch inso­fern habe der Tatrich­ter den Sach­ver­halt zu unter­su­chen. Beson­ders aussa­ge­kräf­tig seien Erklä­run­gen des Schuld­ners, er könne nicht zahlen. Ande­rer­seits sollen „Zahlungs­ver­zö­ge­run­gen allein, auch wenn sie wieder­holt auftre­ten, nicht schon stets ausrei­chen“. Es müssen dann „Umstände hinzu­tre­ten, die mit hinrei­chen­der Gewiss­heit dafür­spre­chen, dass die Zahlungs­ver­zö­ge­rung auf der fehlen­den Liqui­di­tät des Schuld­ners beruht.“ Anzei­chen seien die Nicht-Zahlung betriebs­not­wen­di­ger Verbind­lich­kei­ten oder die Nicht-Zahlung trotz eines gestei­ger­ten Voll­stre­ckungs­drucks der Gläubiger.

Schließ­lich weicht der BGH seine bishe­rige Recht­spre­chung auf, dass die Fort­dauer der einmal einge­tre­te­nen Zahlungs­fä­hig­keit vermu­tet werde. Das sei nicht stets der Fall. Es komme darauf an, ob eine Sanie­rung außer­halb eines Insol­venz­ver­fah­rens noch aussichts­reich sei. Der Zeit­raum für aussichts­rei­che Sanie­run­gen sei aller­dings verkürzt, wenn der Voll­stre­ckungs­druck der Gläu­bi­ger bereits zuge­nom­men habe.

Die Darle­gungs- und Beweis­last für die tatsäch­li­chen Umstände, die über die erkannte Zahlungs­un­fä­hig­keit hinaus für den Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs-vorsatz und die Kennt­nis von diesem erfor­der­lich sind, trägt der Insol­venz­ver­wal­ter. Das gelte auch, so der BGH, „soweit es sich – wie bei dem Umstand, dass keine begrün­dete Aussicht auf Besei­ti­gung der Illi­qui­di­tät bestand – um nega­tive Tatsa­chen handelt. Dass keine begrün­dete Aussicht auf Besei­ti­gung der Deckungs­lü­cke bestand, ist aller­dings regel­mä­ßig anzu­neh­men, wenn die Ursa­che für die Entste­hung der Zahlungs­un­fä­hig­keit nicht besei­tigt war oder abseh­bar besei­tigt werden würde.“

Der BGH setzt damit zugleich einen Anreiz für recht­zei­tige Sanie­rungs­be­mü­hun­gen. Sind diese unter plau­si­blen Annah­men aussichts­reich, dürfte es kaum möglich sein, dass ein Insol­venz­ver­wal­ter den Voll­be­weis einer Kennt­nis des Anfech­tungs­geg­ners vom Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs­ab­sicht des Schuld­ners darle­gen und bewei­sen kann. Recht­zei­tige und aussichts­rei­che Sanie­rungs­be­mü­hun­gen dürf­ten auch ausrei­chen, um die gesetz­li­che Vermu­tung der Gläu­bi­ger­be­nach­tei­li­gungs­ab­sicht bei nur drohen­der Zahlungs­un­fä­hig­keit, § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, zu erschüttern.

Das Urteil des BGH wird zu vielen Kommen­ta­ren führen. Miss­ver­ständ­nisse sind vorpro­gram­miert. Der BGH führt zur Zahlungs­un­fä­hig­keit nicht das “Prin­zip Hoff­nung” ein. Die Entschei­dung ist auf die Insol­venz­an­fech­tung und damit auf die Sicht der Gläu­bi­ger beschränkt. Die Arbeit am Sach­ver­halt wird noch wich­ti­ger. Das gilt nicht nur für den späte­ren Anfech­tungs­pro­zess. Entschei­dend ist, recht­zei­tig in der Krise durch fach­män­nisch beglei­tete Sanie­rungs­pla­nun­gen die Weichen dafür zu stel­len, dass jeden­falls in Zukunft (wieder) alle Zahlun­gen begli­chen werden können. Das schützt den Schuld­ner und seine Gläu­bi­ger gleichermaßen.